Lange Historie

Die Wengenkirche blickt auf eine traditionsreiche Geschichte zurück.

Bereits im Jahr 1183 wurde auf dem heutigen Michelsberg die erste Kirche errichtet, die von Augustinerchorherren betreut wurde. Diese verlagerten 1215 ihren Sitz auf die Blauinseln und bauten dort die zweite Michaelskirche „St. Michael zu den Wengen“ („St. Michael in den Wiesen“).

Auf Beschluss der Stadt mussten jedoch Kirche und Stift 1377 abgebrochen werden. Erst im Jahr 1399 konnten die Chorherren an der heutigen Stelle den Grundstein für ein neues Stift mit neuer Kirche legen.

Nach der Säkularisation 1802/03 wurde St. Michael die erste katholische Gemeindekirche Ulms.

Beim Bombenangriff am 17. Dezember 1944 wurde die Wengenkirche fast völlig zerstört, so dass 1953/54 die vierte Michaelskirche in neuer Gestalt erbaut wurde.

1996/97 erfolgte eine abschließende Innenrenovation, die der Kirche ihre heutige Prägung verlieh. Der Wiederaufbau schafft mit der jetzt möglichen räumlichen Erweiterung zugleich ein kirchliches Zentrum inmitten der Stadt.

Kirche St. Michael zu den Wengen

Kunstwerke, die einst in der Wengenkirche zu sehen waren

Kunstwerke, die einst in der Wengenkirche zu sehen waren
Am Tag des offenen Denkmals 2020 stellte Dr. Oliver Schütz von der Katholischen Erwachsenenbildung (keb) die 1944 zerstörten Deckengemälde und den einstigen mittelalterlichen Pestaltar der Wengenkirche in zwei Online-Veranstaltungen vor.

1. Engelskonzert und Höllensturz
Die Decke der Wengenkirche hat über die Jahrhunderte nachhaltige Veränderungen erfahren. Ein Höhepunkt war, als der Künstler Franz Martin Kuen sie ab 1743 mit prächtigen Fresken ausmalte. Die kurz vor der Zerstörung (1944) angefertigten Aufnahmen der Decke geben einen Einblick in die farben- und glaubensfrohe Gestaltung der Kirche in früheren Zeiten. Die Bilder werden in einem Online-Vortrag präsentiert und erläutert. Die Geschichte und Geschichten dieser Kirchendecke werden so lebendig.

2. Schutz vor Pest und Seuchen
Die Ulmer Wengenkirche schmückte einst ein eindrucksvoller Altar des Ulmer Künstlers Martin Schaffner (um 1513/14). Geschaffen als Objekt der Frömmigkeit, fiel der Altar 1803 bei der Auflösung des Wengenklosters an Bayern und wurde zu einem Museumsobjekt umfunktioniert. Die erhaltenen Altarflügel und ihre Geschichte werden in diesem Online-Vortrag präsentiert. Sie zeigen, wie man sich vor 500 Jahren die Herkunft und Verbreitung von Seuchen vorstellte. Die Darstellung illustriert den Schutz vor Pest und Seuchen und ist damit ein heute aktuelles Motiv.

Vorträge: Dr. Oliver Schütz, Theologe und Historiker

Geschichte von Kirche und Kloster

Nach der bis ins 8. Jahrhundert zurückreichenden Pfarrkirche, dem heutigen Münster, war das 1183 als Pilgerspital auf dem Michelsberg gegründete Augustinerchorherrenstift die Zweitälteste kirchliche Institution in Ulm. Erst um 1220 wurde die Kommende des Deutschen Ordens gestiftet, gefolgt von der Gründung des Franziskanerklosters auf dem jetzigen Münsterplatz (1229) und des Dominikanerklosters bei der Dreifaltigkeitskirche (1281).

Die Entwicklung des Augustinerchorherrenstifts verlief wechselvoll. 1215 wurde es vom Michelsberg auf die Blauinseln verlegt, musste dort 1376 erneut weichen und erhielt schließlich 1399 mit Baubeginn der Wengenkirche seine bleibende Stätte in der Innen­stadt. Als letzte innerhalb der Mauern angekommene geistliche Einrichtung spielten die Chorherren im Vergleich zu Pfarrkirche und Bettelorden in der Seelsorge eine eher nachrangige Rolle und widmeten sich vor allem wissenschaftlichen Studien und der Betreuung der Lukasbruderschaft der Künstler. Dies änderte sich, als Ulm 1530 nach Abstimmung der Bürgerschaft zur reformatorischen Lehre übertrat, in der Pfarrkirche evangelischer Gottesdienst gefeiert und die Bettelordensklöster aufgehoben wurden. Nur das Chorherrenstift konnte sich dank diplomatischen Geschicks seines Propstes Ambrosius Kaut neben der unmittelbar dem Kaiser unterstehenden Deutschordens-kommende als katholische Institutionen in Ulm behaupten.

Für die wenigen in der Reichsstadt verbliebenen Katholiken wurde das Wengenstift mit seinen durchschnittlich zehn bis fünfzehn Chorherren zum kirchlichen Mittelpunkt. Freilich blieben dem Stift trotz aller Bemühungen des Bischofs von Konstanz die Pfarr­rechte versagt. Einzige Pfarrkirche in Ulm, so entschied der damals auch für Religions­fragen zuständige Ulmer Rat, sei und bleibe das Münster. Der Aufsicht des Rates mussten sich auch die Chorherren unterwerfen, und nur schrittweise gelang es ihnen, Freiräume für ihre Seelsorgetätigkeit zu erringen. Unangefochten zugestanden wurde zwar die Feier der Eucharistie, aber Predigten wurden erst nach langen Verhandlungen im 17. Jahr­hundert erlaubt. Großzügiger verfuhr der Rat, als er die nach dem Kirchenrecht an eine Pfarrei gebundene Spendung des Bußsakraments und den Kommunionempfang in der Wengenkirche zuließ. Schwieriger zu vereinbaren waren Regelungen für Taufen, Trauungen und Beerdigungen, denen – nach modernem Verständnis – zugleich standesamtliche Bedeutung zukam. Im Ergebnis durften, jeweils auf Antrag, Taufen in Privatwohnungen gespendet werden. Trauungen nach katholischem Ritus mussten jedoch außerhalb Ulms erfolgen. Versehgänge der Chorherren in der Stadt wurden regelmäßig gestattet, zu Bestattungen mussten sie jedoch an einen katholischen Ort, meist nach Söflingen, ausweichen. Da für alle diese kirchlichen Handlungen die Genehmigung des Rats ein­zuholen war, sicherte dieser sich die Aufsicht und blieb über alle Vorgänge informiert.

Das erste Wengenkloster mit Kirche auf dem Ulmer Michelsberg (um 1490)

Mit solchen Einschränkungen konfrontiert, mussten sich die Katholiken zumindest in ihrer Religionsausübung doch als Fremdkörper in der Reichsstadt fühlen, und es bedurfte gewiss eines von Glaubensüberzeugung gefestigten Beharrungsvermögens, um sich in diesem Umfeld zu behaupten. Im Chorherrenstift fanden sie dafür Rückhalt und in der Wengenkirche ihre religiöse Heimat. Dazu beigetragen hat sicherlich auch, dass vom Stift durch die Pflege von Wissenschaft und Musik vielfache religiöse Impulse ausgingen. Die von Chorherren geleitete Stiftsschule zog auch Schüler von auswärts an, die erbau­liche und der Belehrung dienende Dramen und Singspiele zur Aufführung brachten. Verschiedentlich umgebaut und den jeweils modernen Stilrichtungen angepasst wurde auch der Kirchenbau. Er war der äußere Rahmen für das katholische Leben. Mitten im Dreißigjährigen Krieg erhielt die bis dahin eher einfache, saalartige und flach gedeckte Kirche eine barocke Ausstattung mit Tonnengewölbe (1629 -1635), und hundert Jahre später (1738 -1766) wurde das Kircheninnere erneut im heiteren Stil des Rokoko um­gestaltet. Beherrschendes Thema der farbenfrohen Fresken war die Lehre von den Engeln mit Erzengel Michael, dem Patron der Kirche, als Mittelpunkt. Es war eine einladende Atmosphäre, in der sich die Katholiken zum Gottesdienst zusammenfanden, die auch erhalten blieb, als das Augustinerchorherrenstift im Zuge der Säkularisation 1802 auf­gehoben wurde. Während einer Übergangsphase durften Chorherren die Betreuung der Gemeinde fortführen, ehe im März 1805 ein seit Jahrhunderten angestrebtes Ziel erreich und St. Michael zur Pfarrei erhoben wurde. Trotz stark wachsendem Anteil der Katholiken an der Bevölkerung blieb sie bis 1920 die einzige katholische Pfarrei in Ulm. Auch wenn danach und erneut durch Zuzug nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Pfarrsprengel entstanden, gilt St. Michael zu den Wengen doch im Bewusstsein vieler dank seiner zentralen Lage und seiner langen Tradition im unmittelbaren wie im übertragenen Sinne als „Kirche im Herzen der Stadt”.

Prof. Hans Eugen Specker